„Lebensraum Gewässer – Sedimentdynamik und Vernetzung“, ein Projekt im Forschungsprogramm

Sabine Fink, Anna Belser, Carmelo Juez, Christoph Scheidegger, Christine Weber, David Vetsch

Zusammenfassung
Das Bundesamt für Umwelt hat gemeinsam mit vier Instituten des ETH-Bereichs vor 15 Jahren das interdisziplinäre Forschungsprogramm «Wasserbau und Ökologie» lanciert. Durch praxisorientierte Forschung von Flussbauingenieurinnen und –ingenieuren, sowie Ökologinnen und Ökologen werden wissenschaftliche Grundlagen zu aktuellen Fragen des Gewässer- und Hochwasserschutzes erarbeitet. Die Erkenntnisse werden in Merkblatt-Sammlungen für ein interdisziplinäres Publikum zusammengefasst, letztmals 2017 in der Publikation «Geschiebe- und Habitatsdynamik». Die aktuelle Projektphase «Lebensraum Gewässer – Sedimentdynamik und Vernetzung» behandelt zwei zentrale Forschungsthemen: Feststofftransport (und Wasserführung) in mittelgrossen Fliessgewässern, sowie Gewässerraum als Lebensraum, wobei die Gestaltung, Nutzung und der Unterhalt des Gewässerraums untersucht werden.

Ausgangslage
Seit der Einführung von Art. 4 Wasserbaugesetz und Art. 37 Gewässerschutzgesetz im Jahr 1991 besteht die gesetzliche Pflicht, bei Eingriffen in das Gewässer dessen natürlicher Verlauf möglichst beizubehalten oder wiederherzustellen. Gewässer und Gewässerraum müssen so gestaltet werden, dass sie einer vielfältigen Tier-, Pilz- und Pflanzenwelt als Lebensraum dienen können; die Wechselwirkungen zwischen ober- und unterirdischen Gewässern weitgehend erhalten bleiben und eine standortgerechte Ufervegetation gedeihen kann. Diese Pflicht wurde mit der Volksinitiative «Lebendiges Wasser» (2010) und der Anpassung der neuen Gewässerschutzverordnung im Jahr 2011 bestärkt und Bund, Kantone und Gemeinden erhielten den politischen Auftrag, Fliessgewässer zu revitalisieren.
Die Revitalisierung von ca. 4‘000 km Fliessgewässer soll bis 2090 erreicht sein. Das Forschungsprogramm «Wasserbau und Ökologie» des Bundesamt für Umwelt sowie der Forschungsinstitute des ETH-Bereichs (Eawag, LCH der EPFL, VAW der ETH Zürich und WSL) hat zum Ziel, wissenschaftliche Grundlagen zur Beantwortung aktueller Praxisfragen zu erarbeiten.
Eine naturnahe Abfluss- und Sedimentdynamik bildet eine wichtige Voraussetzung für ökologisch funktionierende Fliessgewässer. Die vergangene Projektphase «Geschiebe- und Habitatdynamik» (2013-2017) untersuchte den menschlichen Einfluss auf die Sedimentdynamik in Fliessgewässern. Im Fokus standen neben Analysen zu Ursachen und ökologischen Auswirkungen auch Massnahmen, welche die Geschiebedynamik reaktivieren können. Ein weiterer Schwerpunkt bildeten Untersuchungen zu Revitalisierung von Auenlandschaften. Die wichtigsten praxisrelevanten Resultate aus dem Projekt wurden Ende letzten Jahres als Merkblattsammlung vom Bundesamt für Umwelt herausgegeben1. Die sieben Merkblätter behandeln allgemeine Themen wie die Messung von Auswirkungen der Sedimentdynamik auf ökologische Prozesse und Lebewesen oder die Bedeutung der Feinsedimentdynamik (Abbildung 1). Weiter werden auch spezifische Fragestellungen wie die Verbesserung der Geschiebekontinuität mittels Sedimentumleitstollen oder durchgängigen Geschiebesammlern in Wildbächen diskutiert (Abbildung 1).
Die Merkblätter sind die Fortsetzung der Merkblatt-Sammlung «Wasserbau und Ökologie» von 20122. Sie wurden von Forscherinnen und Forschern gemeinsam mit Praktikerinnen und Praktikern erarbeitet und zeigen den aktuellen Stand der Forschung mit Bezug zur Praxis auf. Weiterführende wissenschaftliche Literatur zu den jeweiligen Merkblättern findet sich auf der Internetseite des Projektes3.

Abb. 1: Schematische Darstellung von drei in der Merkblattsammlung «Geschiebe- und Habitatdynamik» behandelten Themen: A: Sedimentdynamik und ihre Auswirkungen messen, B: Durchgängige Geschiebesammler in Wildbächen. C: Sedimentumleitstollen und künstliche Hochwasser.

Projektbeschreibung laufendes Programm 2017 – 2021
In nahtloser Fortsetzung wurde im Rahmen des Forschungsprogrammes 2017 eine weitere fünfjährige Projektphase mit Schwerpunkt «Lebensraum Gewässer – Sedimentdynamik und Vernetzung» gestartet3. Die zwei zentralen Forschungsthemen lauten «Feststofftransport (und Wasserführung)» sowie «Gewässerraum als Lebensraum». Alle Fragestellungen werden in Bezug auf Ökologie und Sicherheit, sowie unter Einbezug der Vernetzung analysiert. Auch für diese Projektphase sind wiederum Praxisprodukte geplant.
Das Projekt umfasst 13 Teilprojekte, welche jeweils von einer der vier Institutionen koordiniert werden. Es wird eine intensive Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Institutionen und begleitenden Fachgruppen aus Verwaltung und Interessensverbänden gepflegt. Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Teilprojekte wurde in Vetsch et al. 2018 publiziert4. Hier wird zusammenfassend auf die wichtigsten Untersuchungen und Ziele betreffend der zwei zentralen Forschungsthemen eingegangen.

Schwerpunkt 1: Feststofftransporte (und Wasserführung) – Bedeutung hinsichtlich Sicherheit und Ökologie, vor allem in mittelgrossen Gewässern.
Die Wiederherstellung einer naturnahen Sediment- und Abflussdynamik ist ein Ziel der revidierten Gewässerschutzgesetzgebung. In der Schweiz ist die Sedimentdynamik durch Stauanlagen, Verbauungen und Begradigung stark verändert, sodass die grossen Mittellandflüsse ohne Massnahmen kaum noch Geschiebe führen. Künstliche Geschiebeschüttungen unterhalb von Stauanlagen oder Umleitungen von Geschiebe im Staubereich mittels Umleitstollen sind mögliche Massnahmen, wenn der Sedimenttransport unterbrochen ist.
Die interdisziplinären Teilprojekte untersuchen die Wirkung von spezifischen baulichen Massnahmen in und entlang von Fliessgewässern sowie der Bewirtschaftung durch künstlichen Sedimentzugaben, um den Feststofftransport in Flüssen zu optimieren. Die Mobilisierung, der Transport und die Ablagerung von Sedimenten unterschiedlichster Korngrössen fördern die Dynamik in natürlichen Fliessgewässern. Viele der Prozesse sind äusserst komplex und mögliche Auswirkungen zeigen sich zeitlich verzögert.

Folgende Fragen zur Sedimentdynamik in Fliessgewässern werden bspw. in den Teilprojekten erforscht:

  • Wie kann die eigendynamische Entstehung von Flussaufweitungen beinflusst werden, um die Bildung von Refugien zu fördern?
  • Welchen Effekt haben seitliche Entlastungen auf den lokalen Geschiebetransport, resp. auf die Sohlenveränderung?
  • Wie werden Feinsedimente in Abhängigkeit der Uferrauheit (Makrostrukturen) und des Bewuchses der Vorländer zurückgehalten (Abbildung 2)?
  • Wie kann ein durchlässiger Geschiebesammler für verschiedene Hochwasserganglinien und Geschieberückhalteräume optimiert werden?

Die Fragen zur Sedimentdynamik werden durch numerische und physikalische Modellversuche unter Leitung der Wasserbau-Institute LCH der EPFL und VAW der ETH Zürich durchgeführt (Abbildung 2). Es fliessen Informationen zur Ökologie mit ein, bspw. bei der Untersuchung zum Einfluss der Vegetation auf den Feinsedimentrückhalt oder bei der Abschätzung des Revitalisierungspotentials.

Abb. 2: Zu untersuchender Standort Flaz (GR, links) und entsprechendes physikalisches Modell (rechts) zur Analyse von Feinsedimenttransport. Das seit 2006 neu geschaffene Teilstück des Flaz bei Samedan (GR) eignet sich als Vorlage für Modellversuche. Das Experiment zur Untersuchung von Feinsedimenttransport wird in einem verkleinerten, künstlichen Flusskanal an der LCH EPFL durchgeführt (Foto links: Simon Schärer, Foto rechts: Carmelo Juez).

Schwerpunkt 2: Gewässerraum als Lebensraum – Gestaltung, Nutzung und Unterhalt des Gewässerraums hisichtlich Sicherheit und Ökologie.
Die Gewässerschutzgesetzgebung verlangt die Ausscheidung des Gewässerraum entlang des gesamten Gewässernetzes. Auentypische Lebensräume und die Vielfalt an aquatischen, amphibischen und terrestrischen Lebensgemeinschaften sollen gefördert werden. Neben Ökologie sind jedoch auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen (bspw. Energieproduktion, Naherholung, Ökosystemleistungen) zentrale Aspekte, die bei der Gestaltung des Gewässerraums berücksichtigt werden müssen.
Bei beschränktem Raum gewinnt die Vernetzung an Bedeutung: Eine gute biologische Vernetzung führt zu einer stärkeren Zunahme der Biodiversität, auch bei kleiner Fläche. Zudem ist die Resilienz von Auenlebensräumen bei guter Vernetzung grösser, auch nach ausgeprägten Hochwasserereignissen mit Geschiebeumlagerungen. Interdisziplinäre Ansätze von Wissenschaft und Praxis sind nötig, um die komplexen Zusammenhänge zu verstehen und für Revitalisierungsprojekte umzusetzen.

Diese Aspekte werden in den Teilprojekten untersucht und dabei sind bspw. folgende Fragen zentral:

  • Wie beeinflusst die Geschiebedynamik die Stoff- und Energieflüsse zwischen aquatischen Habitaten und dem umgebenden Auengebiet (Abbildung 3)?
  • Wie ist die ökologische Bedeutung und Verfügbarkeit von Refugien und wie können die Erkenntnisse fürs Fliessgewässermanagement genutzt      werden?
  • Wie wirkt sich die Korngrössenzusammensetzung auf Fortpflanzung und Lebensgeschichte von Fischen aus?
  • Wie werden revitalisierte Gewässerabschnitte von Zielarten neu besie- delt (Abbildung 4)?
  • Wie wirken sich unterschiedlichen Störungsintensitäten (Dynamik) auf die Hartholzauenwaldentwicklung aus und welchen Raumbedarf haben Zielarten in Auen (Abbildung 5)?

Die Teilprojekte zu interdisziplinären Untersuchungen des Gewässerraumes werden von Ökologinnen und Ökologen mit Spezialisierung auf aquatische und terrestrische Lebensräume sowie von Flussbauingenieurinnen und –ingenieuren der VAW der ETH Zürich durchgeführt. Neben Feldstudien werden Laborexperimente, genetische Analysen und Modellierungen genutzt, um die longitudinale und laterale Vernetzung von Zielarten und deren Populationen sowie die optimale Gewässerraumnutzung zu untersuchen.

Praxisprodukte
Im Rahmen des Projektes sind nebst den wissenschaftlichen Originalpublikationen wiederum Merkblätter geplant. Diese werden die Erkenntnisse interdisziplinär und praxisorientiert zusammenfassen.

Abb. 3: Viele Insekten verbringen ihr Larvenstadium im Wasser. So bauen sich Larven der Köcherfliegenart (Allogamus auricollis) ihre Köcher aus Sedimentpartikeln. Die schlüpfenden Insekten stellen eine wichtige Futterquelle für viele Lebewesen an Land dar, wie Spinnen, Eidechsen, Fledermäuse
oder Vögel (Foto: Roland Riederer).

Abb. 4: Die Deutsche Tamariske (Myricaria germanica) hat Kiesbänke entlang des revitalisierten Abschnitts der Flaz bei Samedan (GR, vgl. Abbildung 2) neu besiedelt. Genetische Analysen und Modellierungen ermöglichen, die Besiedlung genauer zu untersuchen und mögliche Quellpopulationen zu ermitteln (Foto: Sabine Fink).

Abb. 5: Die Zinnoberrote Fleckflechte (Arthonia cinnabarina) ist auf junge Eschen in Hartholzauenwäldern angewiesen. Stellvertretend für den ganzen Lebensraum wird diese Zielart untersucht um Informationen
zur Vernetzung von Hartholzauenwäldern entlang von Fliessgewässern zu gewinnen
(Foto: Christoph Scheidegger).

Kontakt:

Sabine Fink,
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Tel. 044 739 28 36,
sabine.fink@wsl.ch

Anna Belser,
Bundesamt für Umwelt BAFU
Tel. 058 464 60 12,
Email anna.belser@bafu.admin.ch

Carmelo Juez,
Laboratoire de Constructions Hydrauliques CH-EPFL
Tel. 021 693 23 66,
carmelo.juez@epfl.ch

Christoph Scheidegger,
Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Tel. 044 739 24 39,
christoph.scheidegger@wsl.ch

Christine Weber,
Eawag: Das Wasserforschungs-Institut des ETH-Bereichs
Tel. 058 765 22 14,
christine.weber@eawag.ch

David Vetsch,
Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW. VAW)
Tel. 044 632 40 91,
vetsch@vaw.baug.ethz.ch

Referenzen:

  1. Bundesamt für Umwelt BAFU, 2017: Geschiebe- und Habitatsdynamik. Merkblatt-Sammlung Wasserbau und Ökologie. Bern
    (www.bafu.admin.ch/uw-1708-d)
  2. Bundesamt für Umwelt BAFU, 2012: Merkblatt-Sammlung Wasserbau und Ökologie. Erkenntnisse aus dem Projekt Integrales Flussgebietsmanagement. Bern (www.bafu.admin.ch/uw-1211-d)
  3. www.rivermanagment.ch
  4. Vetsch, D.; Allen, J.; Belser, A.; Boes, R.; Brodersen, J.; Fink, S.; Franca, M.J.; Juez, C.; Nadyeina, O.; Robinson, C.T.; Scheidegger, C.; Schleiss, A.; Siviglia, A.; Weber, C.; Weitbrecht, V., 2018: Lebensraum Gewässer – Sedimentdynamik und Vernetzung. Forschungsprogramm «Wasserbau und Ökologie». Wasser, Energie, Luft, 110, 1: 19-24.