Diversität und Verbreitung der Flohkrebse der Schweiz: erstmalige Grundlagen für den Gewässer- und Artenschutz

Roman Alther & Florian Altermatt

Das Vorkommen und die Vielfalt der Flohkrebse in der Schweiz waren bisher nur wenig erforscht und dokumentiert. Für die angewandte Forschung, den erfolgreichen Schutz der Gewässer und aussagekräftige Langzeitbeobachtungen war das ein Problem. Nun gibt ein neu erschienenes Buch erstmals eine umfassende Übersicht über diese ökologisch bedeutenden Krebstiere. In den letzten Jahren wurden fünf Flohkrebsarten neu für die Wissenschaft entdeckt, wobei einige dieser Arten sogar endemisch für die Schweiz sind.

Bedeutende Bewohner der Gewässer
Flohkrebse (Amphipoda) gehören zu den häufigsten und am weitesten verbreiteten wirbellosen Tieren in Schweizer Flüssen und Seen (Abb. 1). In naturnahen Gewässern können sie in grosser Zahl vorkommen und allgegenwärtig sein. Sie sind im Schnitt 2 – 40 Millimetern gross und sehen auf den ersten Blick mit ihrer gebogenen Form ähnlich aus wie Speisegarnelen. Meist verstecken sie sich in Laubstreu oder unter Steinen, zwischendurch bewegen sie sich auf der Seite liegend über den Grund des Gewässers.

Abb. 1 Ein typischer Bewohner kleinerer Fliessgewässer: Der Bachflohkrebs (Gammarus fossarum s.l.; Foto: F. Altermatt)

Flohkrebse sind für das Funktionieren der Gewässer häufig unentbehrlich. Sie zerkleinern organisches Material, das in Form von Laubstreu in die Gewässer gelangt oder als Biofilm auf Steinen und Algen wächst. Dadurch helfen sie, diese Nährstoffe anderen Organismen zugänglich zu machen. Einen Grossteil des organischen Materials konsumieren sie selber und dienen wiederum als Nährtiere für grössere Organismen, wie beispielsweise Fische. Gleichzeitig reagieren sie empfindlich auf Verschmutzungen oder Beeinträchtigungen der Gewässer, beispielsweise durch Pestizide. Sie werden daher in der Gewässerökologie und Ökotoxikologie als Indikatoren für die Bewertung der Gewässergüte verwendet. Es erstaunt also, dass über die Vielfalt und das Vorkommen der Flohkrebse in der Schweiz trotz ihrer Bedeutung für Gewässerökosysteme bisher sehr wenig bekannt war (Altermatt et al. 2014).

Neues Buch über die Flohkrebse der Schweiz
Das an der Eawag und Universität Zürich angesiedelte Projekt «Amphipod.ch» untersucht seit 2014 die Diversität und Verbreitung der Flohkrebse in der Schweiz. Im Rahmen dieses Projektes wurden über 200’000 Individuen von 2238 Standorten bestimmt und untersucht. Als Resultat dieser Arbeiten erschien im Herbst 2019 erstmals eine umfassende Übersicht in Form einer Monographie (Altermatt et al. 2019). Der neuste Band in der Reihe Fauna Helvetica beinhaltet einen reich illustrierten Bestimmungsschlüssel, Artmonographien mit ökologischen und faunistischen Erläuterungen, sowie Verbreitungskarten aller Flohkrebsarten der Schweiz. Damit schafft das Buch erstmalig breit abgestützte Grundlagen für die Verwendung von Flohkrebsen in Biodiversitätsanalysen, in der Gewässerökologie, im Gewässerschutz und in der Ökotoxikologie.

Weitverbreitet und trotzdem unbekannt
Insgesamt gibt es in der Schweiz 40 Flohkrebsarten. Dazu gehören 27 einheimische und 13 nicht einheimische Arten. Flohkrebse kommen in allen Landesteilen der Schweiz vor, insbesondere in tieferen Lagen des Mittellandes, im Jura und im Tessin (Abb. 2). Es gibt aber auch Vorkommen in den Alpen bis auf über 2500 m ü. M. Flohkrebse bewohnen nicht nur die Oberflächengewässer, sondern in weiten Teilen der Schweiz auch die unterirdischen Gewässer, darunter Höhlen, Quellen und das Grundwasser. Wichtig für das Vorkommen bestimmter Flohkrebsarten sind nebst biogeographischen Faktoren vor allem die lokalen Umweltbedingungen. Nur wenige der Flohkrebsarten haben eine weite Verbreitung und grössere Seen sind natürlicherweise artenreicher als Fliessgewässer.

Abb. 2 Fundorte von Flohkrebsen in der Schweiz, wobei die Mehrzahl der Proben von tiefer gelegenen Standorten stammt (aus Altermatt et al. 2019).

Die häufigsten Flohkrebse in der Schweiz sind Gammarus fossarum s. l. und Gammarus pulex. Sie sind weit verbreitet, wobei sie in kleineren und mittelgrossen Fliessgewässern häufig die einzigen Vertreter der Flohkrebse sind. Im Tessin nimmt Echinogammarus stammeri eine ähnliche Rolle wie Gammarus fossarum s. l. in der restlichen Schweiz ein. Der Jurabogen, insbesondere das Einzugsgebiet der Areuse, und die Gegend um den Vierwaldstättersee weisen einige besondere Arten auf, die teilweise nur sehr lokal vorkommen und darum schutzbedürftig sind.

Die unterirdisch lebenden Flohkrebse gehören fast ausschliesslich zur Gattung Niphargus, wobei die starke Fragmentation der Habitate zu einer oft sehr lokalen Verbreitung dieser Arten führt. Der Verbreitungsschwerpunkt der Gattung liegt in karstigen Regionen der Zentralschweiz, in den Alpen und im Jura. Neueste Forschungsergebnisse deuten aber darauf hin, dass die Verbreitung und Vielfalt der unterirdisch lebenden Flohkrebse im Mittelland noch massiv unterschätzt wird und viele Grundwasservorkommen einen Lebensraum für diese Arten darstellen. Ein aktuelles Forschungsprojekt soll hier Klarheit schaffen.

Neue Namen mussten her
In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt und nationalen und kantonalen Monitoringprogrammen (z. B. Biodiversitätsmonitoring BDM oder Nationale Beobachtung Oberflächengewässerqualität NAWA) konnte relativ schnell eine gute Datengrundlage zum Vorkommen von Flohkrebsen in Oberflächengewässern erarbeitet werden. Ganz anders präsentierte sich die Situation bezüglich der unterirdischen Diversität, wo viel weniger Daten verfügbar waren. Da Grundwasser in der Schweiz etwa 80 % des Trinkwassers ausmacht, ist dessen Verständnis als Lebensraum von enormer Bedeutung. Im Rahmen des Projektes wurde darum eine Zusammenarbeit mit Höhlenforscherinnen und –forschern etabliert. Für diesen «Citizen Science» Ansatz wurden Netze, Pinzetten und Alkoholröhrchen bereitgestellt, die anschliessend die Probenahme ermöglichten (Abb. 3). Innerhalb kürzester Zeit wurden so über Hundert Proben aus unterirdischen Lebensräumen gesammelt und der Ansatz wird aktuell auf Trinkwasserbetreiber ausgeweitet, um Brunnstuben zu beproben.

Abb. 3 Material zur Probename, welches an Höhlenforschende versandt wurde. Momentan laufen ähnliche Bestrebungen zur Beprobung von Brunnenstuben in der Schweiz (Foto: R. Alther).

Anhand solcher Proben konnten insgesamt fünf bisher unbekannte Arten von Flohkrebsen neu für die Wissenschaft beschrieben werden. Die Funde, die aus dem Berner Oberland, der Nordostschweiz und der Zentralschweiz stammen, wurden sowohl aufgrund von morphologischen als auch von genetischen Unterschieden als eigenständige Arten beschrieben. Dies widerspiegelt sich teilweise auch in den Namen, die den neuen Arten gegeben wurden. So tragen drei Arten Namen, welche auf die Fundstellen im Hölloch verweisen (Niphargus muotae, Niphargus murimali, Niphargus styx; Fišer et al. 2017). Die zwei anderen Arten (Niphargus luchoffmanni und Niphargus tonywhitteni) wurden zu Ehren von Luc Hoffmann (1923 – 2016; Schweizer Naturschützer und Gründungsmitglied WWF) und Tony Whitten (1953 – 2017; Britischer Naturschützer, insbesondere von Karstökosystemen) benannt (Fišer et al. 2018).

Endemische und invasive Arten
Diese neu entdeckten Flohkrebse sind potentiell gefährdet, denn vier der fünf neu entdeckten Arten wurden bisher nur in der Schweiz gefunden, es handelt sich daher um sogenannt endemische Arten. Die vier Arten (N. luchoffmanni, N. muotae, N. murimali, N. styx; Abb. 4) gehören alle zur unterirdisch lebenden Gattung Niphargus. Aus evolutionärer und biogeographischer Sicht handelt es ich bei diesen Arten wohl um Relikte, welche die Eiszeit im Untergrund oder anderen Refugien überdauert haben und bis zum heutigen Zeitpunkt relativ ungestört fortbestanden haben. Die Schweiz hat dadurch eine hohe Verantwortung für den Erhalt dieser einzigartigen Biodiversität im Grundwasser und in Höhlen. Diese Lebensräume sind ein integraler Bestandteil der ökologischen Infrastruktur, doch anthropogene Einflüsse wie der Klimawandel oder die Verschmutzung des Grundwassers, beispielsweise durch Pestizide, stellen für diese Ökosysteme und deren empfindliche Arten eine Gefahr dar. Damit diese Vielfalt geschützt werden kann, sind Grundlagen über die Vorkommen und Verbreitung von Arten wichtig.

Abb. 4 Vier endemische Flohkrebsarten aus der Schweiz. Von links nach rechts: Niphargus murimali, N. luchoffmanni, N. styx und N. muotae (Zeichnungen: C. Fišer und R. Alther).

Aber auch die Vielfalt in den Oberflächengewässern ist bedroht. Denn neu in die Schweiz eingewanderte Flohkrebsarten breiten sich stark aus und verdrängen teilweise die einheimischen Arten. Ein typisches Beispiel für eine solche invasive Art ist Dikerogammarus villosus, den man inzwischen in beinahe allen grösseren Seen der Schweiz findet. Die invasiven Arten überwinden durch anthropogene Verschleppungen sowohl Grenzen von kontinentalen Flusseinzugsgebieten als auch ganze Kontinente. In der Schweiz macht sich der Einfluss eingewanderter Arten besonders im Hochrhein und angrenzenden grösseren, schiffbaren Flüssen und Seen bemerkbar. In den kleineren Gewässern findet man hingegen meist nur einheimische Flohkrebse. Die Verdrängung der einheimischen Flohkrebse kann zu einer Verarmung der Diversität führen, was wiederum negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Ökosystems haben kann.

Quo vadis, amphipoda?
Obwohl nun erstmals eine umfassende Übersicht der Flohkrebse der Schweiz verfügbar ist, zeigt die Forschung der letzten Jahre auch, dass es noch viel zu entdecken gibt. Zurzeit wird in Zusammenarbeit mit dem CSCF, dem Schweizerischen Zentrum für die Kartografie der Fauna, ein elektronischer Bestimmungsschlüssel entwickelt, der bald öffentlich verfügbar ist. Gegenwärtig wird in einem Projekt zu den endemischen Flohkrebsen im Rahmen des Pilotprojektes «Dem Wert des Wassers auf der Spur» (Aktionsplan SBS) das Wissen über die Endemiten vertieft, um damit bessere Grundlagen für die Erhaltung dieser wichtigen Verantwortungsarten zu gewinnen. Das durch die Abteilung Arten, Ökosysteme, Landschaften des BAFU, die Eawag und die Universität Zürich unterstützte Projekt Amphipod.ch ist auch weiterhin an Fundangaben interessiert und ist bestrebt, in zukünftigen Arbeiten und Monitorings eine Bestimmung der Flohkrebse bis auf Artniveau zu etablieren.

 

Altermatt, F., R. Alther, C. Fišer, and V. Švara. 2019. Amphipoda (Flohkrebse) der Schweiz. Fauna Helvetica 32. info fauna CSCF & SEG, Neuchâtel.

Altermatt, F., R. Alther, C. Fišer, J. Jokela, M. Konec, D. Küry, E. Mächler, P. Stucki, and A. M. Westram. 2014. Diversity and distribution of freshwater amphipod species in Switzerland (Crustacea: Amphipoda). PLOS ONE 9:e110328.

Fišer, C., M. Konec, R. Alther, V. Švara, and F. Altermatt. 2017. Taxonomic, phylogenetic and ecological diversity of Niphargus (Amphipoda: Crustacea) in the Hölloch cave system (Switzerland). Systematics and Biodiversity 15:218–237.

Fišer, C., R. Alther, V. Zakšek, Š. Borko, A. Fuchs, and F. Altermatt. 2018. Translating Niphargus barcodes from Switzerland into taxonomy with a description of two new species (Amphipoda, Niphargidae). ZooKeys 760:113–141.