Biodiversitätsforschung im Jagdbanngebiet Graue Hörner (Kt. SG)

REGULA BILLETER, STEFAN WDIMER, MATTHIAS RIESEN, BERTIL O. KRÜSI, JÜRGEN DENGLER, DOMINIK THIEL

In der Schweiz gibt es 42 eidgenössische Jagdbanngebiete. Ein wichtiges Ziel dieser Gebiete ist der Schutz und die Erhaltung von Säugetieren und Vögeln und ihrer Lebensräume (Verordnung über die eidgenössischen Jagdbanngebiete, Art. 1, Stand 2015). Das Jagdbanngebiet «Graue Hörner» im Kanton St. Gallen bietet vielen Tier- und Pflanzenarten weitgehend ungestörten Lebensraum. Um diese Vielfalt zu erhalten und weiter zu fördern, wurden verschiedene Massnahmen umgesetzt. Insbesondere wurden auf einigen alpinen Flächen die Schafsömmerung aufgegeben und in dichten Grünerlenbeständen Lichtungen geschlagen, um Lebensraum für Arten zu schaffen. Mehrere Forschungsprojekte haben untersucht, wie sich diese Massnahmen auf die Vegetation sowie die Tagfalter und Heuschrecken auswirken (Widmer et al. 2020; Riesen et al. 2022).

Ablösung von Schafen durch Wildtiere – verändert sich die Artenvielfalt?

Abb. 1: Untersuchungsgebiet Ritschli (seit 1999 nicht mehr mit Schafen beweidet; Bild: Stefan Widmer)

Ob sich eine Beweidung mit Schafen positiv oder negativ auf die floristische Diversität eines Gebietes auswirkt, hängt von den Eigenschaften der Beweidung wie ihrer Intensität (z.B. Komac et al. 2014), ihrer Frequenz (Austrheim & Eriksson 2001) oder dem Weidesystem (z.B. Meisser et al. 2010), von abiotischen Umweltfaktoren (Milchunas et al. 1988)  und den Eigenschaften des betroffenen Pflanzenbestandes ab (Koerner et al. 2018). Oberhalb der Waldgrenze führt eine Nutzungsaufgabe nicht zur Wiederbewaldung.  Auch ist das Beenden der Beweidung durch Schafe nicht gleichzusetzen mit einem vollständigen Wegfall der Beweidung, denn Wildtiere wie Gämsen (Rupicapra rupicapra) und Alpensteinböcke (Capra ibex) werden solche Flächen typischerweise nach einer Nutzungsaufgabe wieder (oder mehr) beweiden. Wir untersuchten, wie sich ein solcher Wechsel von Nutztierbeweidung zu Wildtierbeweidung im Jagdbanngebiet Graue Hörner auswirkte.

Verglichen wurden drei Gebiete einer Chronosequenz (Raum-für-Zeit-Ersatz) (1) ein Gebiet, das jährlich relativ intensiv mit Schafen beweidet wird , (2) ein Gebiet, in dem die Schafbeweidung vor fünf Jahren beendet wurde und das seither von einem mittelgrossen Gämsenrudel mit ca. 1 Tier pro ha als Habitat genutzt wird, sowie (3) ein Gebiet, das seit 19 Jahren nicht mehr mit Schafen beweidet wird und das seither von einem Gämsenrudel mit ca. 5 Tieren pro ha und einem Steinbock pro ha als Weidefläche genutzt wird (Abb. 1). In den zwei am häufigsten vertretenen Vegetationstypen Bergfettweide (Poion alpinae) und Borstgrasrasen (Nardion) wurde die Vegetation auf zwei Flächengrössen (10 m2 und 200 m2) erhoben. Die faunistischen Erhebungen der Tagfalter- und Heuschreckenarten wurden im Jahr 2018 basierend auf 2500 m2 grossen quadratischen Untersuchungsflächen durchgeführt. Die je vier Flächen in den Gebieten ohne Schafbeweidung sowie die fünf Flächen im Gebiet mit Schafbeweidung wurden so gewählt, dass eine möglichst homogene und ausgewogene Verteilung bezüglich der Nutzung und des Lebensraumtyps im Gebiet erreicht wurde.

Die Unterschiede der mittleren Artenzahl in den drei Gebieten auf 10 bzw. 200 m2 waren weder beim Poion alpinae noch beim Nardion signifikant. Die Poion alpinae-Aufnahmen auf 200 m² wiesen im Gebiet, das seit 19 Jahren nicht mehr mit Schafen beweidet wird, mit einem Mittel von 46.8 Arten jedoch 6 Arten mehr auf als im Gebiet mit Schafbeweidung. Die beiden Gebiete waren sowohl bei den Poion alpinae– als auch den Nardion-Aufnahmen floristisch am unähnlichsten.

Hingegen konnten im Gebiet mit Schafbeweidung über alle fünf Begehungen nicht nur am meisten Tagfalter- und Heuschreckenarten erfasst werden, sondern auch viele Arten, die in den nicht mehr beweideten Untersuchungsgebieten überhaupt nicht vorgefunden werden konnten. Jedoch waren die Unterschiede nicht signifikant. Auch wurde auf den dreizehn Untersuchungsflächen kein signifikanter Zusammenhang zwischen den Artenzahlen oder den Biodiversitätsindizes der Gefässpflanzen und jenen der Tagfalter oder Heuschrecken festgestellt.

Schlussfolgerungen: In den Gebieten, die seit fünf bzw. 19 Jahren nicht mehr mit Schafen beweidet werden, war die Artenzahl bei den Gefässpflanzen und den Tagfaltern nicht signifikant anders als in dem mit Schafen beweideten Gebiet. Dies zeigt, dass die floristische Diversität von alpinen Rasen innerhalb von rund 20 Jahren auf die Ablösung von Schafen durch Gämsen nur wenig reagiert. Die Unterschiede in der floristischen Zusammensetzung und den Mengenanteilen der Arten deuten jedoch darauf hin, dass die Schafbeweidung einen anderen Einfluss auf die Vegetation hat als die extensivere Beweidung durch wildlebende Herbivoren. Eine Veränderung der Vielfalt auf alpinen Rasen nach einer Nutzungsänderung ist aber wahrscheinlich ein langsamer Prozess. Wie sich die Vielfalt in den Gebieten langfristig verändert, kann noch nicht abschliessend abgeschätzt werden und wird auch durch andere Faktoren wie z.B. den Klimawandel beeinflusst.

Lichtungen im Grünerlengebüsch – kann damit die Artenvielfalt gefördert werden?

Abb. 2 Grün-Erlengebüsch mit maschinell geschlagener Schneise (Bild: Matthias Riesen)

Die Grün-Erle (Alnus viridis) befindet sich seit einigen Jahrzehnten im ganzen Alpenbogen in Ausbreitung. In der Schweiz breitet sich das Grünerlengebüsch rund drei- bis viermal schneller aus als der Wald  (Bühlmann et al. 2013). Aufgrund der Extensivierung oder vollstän­digen Aufgabe der landwirtschaftlichen Nut­zung  (z.B. Anthelme et al. 2001) breitet sich die Grün-Erle ausgehend von ihrer früheren Nische in ehemaligen Wiesen und Weiden aus. Dadurch können artenreiche, halb-natürliche Lebensräume wie subalpine Rasen verdrängt werden. Aufgrund einer Symbiose mit dem Bakterium Frankia alni kann die Grün-Erle atmosphärischen Stickstoff fixieren, was zu einer Anreicherung im Boden führt. Dies begünstigt nitrophile, schnellwachsende Arten (Bühlmann et al. 2013). Zudem wird ein Teil als Nitrat (NO3) ausgewaschen oder gelangt als Lachgas (N2O, Treibhausgas) in die Atmosphäre (Bühlmann et al. 2013). Die Frage, wie diese Auswirkungen der Grün-Erlen-Ausbereitung verringert werden können, stellt sich in Jagdbanngebieten besonders dringend. Darum wurde im Rahmen eines Pilotprojekts in einigen dichten Grün-Erlen-Beständen im Jagdbanngebiet Graue Hörner mit Motorsägen Lichtungen geschlagen (Abb. 2). Wir untersuchten, welchen Einfluss die maschinell geöffneten Lichtungen in Grün-Erlen-Beständen auf die Artenvielfalt von Gefässpflanzen, Tag­faltern und Heuschrecken haben.

Pro Lichtung wurden drei Transekte von der Lichtung bis in die offene Weide angelegt. Pro Transekt wurde die Vegetation mit Deckung auf drei 10 m2 grossen Plots erhoben. Auf einer erweiterten Aufnahmefläche von ca. 400 m2 wurden alle zusätzlich auftretenden Gefässpflanzenarten erfasst. Die faunistischen Erhebungen der Tagfalter- und Heuschreckenarten wurden im Jahr 2019 basierend auf 15 rund 900 m2 grossen Untersuchungsflächen durchgeführt. Dafür wurden die gleichen drei Lichtungen ausgewählt wie bei der Vegetationsuntersuchung. Zusätzlich wurden für die faunistische Untersuchung Flächen im hoher, mittlerer und tiefer Grünerlen-Deckung ausgewählt.

Bei den Gefässpflanzen wiesen die Weiden die höchste Artenvielfalt auf, gefolgt von den Lichtungen und den dichten Grün-Erlen-Beständen. Bei den 10 m2-Aufnahmen war der Unterschied der Artenzahl zwischen Grünerlengebüsch und offener Weide signifikant, während sich die Lichtungen nicht signifikant von den Weiden oder Grünerlengebüsch unterschieden. Bei der 400 m2-Aufnahmen wies ebenfalls die offene Weide am meisten und das Grünerlengebüsch am wenigsten Arten auf, die Unterschiede waren jedoch nicht signifikant. Die floristischen Ähnlichkeiten zeigten, dass sich die Grünerlengebüsche, Lichtungen und Weiden deutlich unterscheiden, die Lichtungen jedoch eine höhere Ähnlichkeit mit dem Grünerlengebüsch als mit der offenen Weide aufwiesen.

In den Grünerlen-Untersuchungsflächen wurden insgesamt 49 Tagfalter- und neun Heuschreckenarten nachgewiesen. In den Lichtungen fanden sich die meisten Tagfalterarten (35 Arten) während bei einer tiefen Deckung mit Grünerlen die Artenvielfalt der Heuschrecken am höchsten (neun Arten) war. Im sehr dichten Grünerlengebüsch wurden keine Tagfalter- und Heuschreckenarten festgestellt. In den Lichtungen war die Anzahl Tagfalterarten wie auch die Anzahl Individuen pro Begehung deutlich höher als bei einer tiefen oder mittleren Dichte von Grünerlen. Bei den Heuschrecken wurden insgesamt mehr Arten erfasst, wenn eine niedrige Grünerlendeckung vorhanden war.

Schlussfolgerungen: Dass die Lichtungen auch vier Jahre, nachdem sie geschlagen wurden, noch offen sind, kann als Erfolg betrachtet werden. Als Ergänzung zu den monotonen, dicht mit Grünerlen bewachsenen Teilflächen, bieten Lichtungen einen wertvollen Lebensraum und begünstigen die kleinräumige Artenvielfalt. Dies bestätigt auch eine kleine Pilotstudie mit einer Wildkamera in einer der Lichtungen, die mehrfach äsende Hirsche in der Lichtung erfasste (Riesen 2022). Angesichts des sehr hohen Aufwands und der Tatsache, dass in dieser Studie keine gefährdeten Arten gefunden wurden, sollte eine solche Massnahme trotzdem eingehend abgewogen werden.

Kontakt:

Regula Billeter, Forschungsgruppe Vegetationsökologie, Institut für Umwelt und natürliche Ressourcen, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, 8820 Wädenswil. E-Mail: regula.billeter@zhaw.ch

Projektverantwortung

Forschungsgruppe Vegetationsökologie & Forschungsgruppe Umweltplanung, Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen (IUNR), Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Grüentalstrasse 14, 8820 Wädenswil, Schweiz

Literatur

Widmer S., Riesen M., Krüsi B.O., Dengler J., Billeter R. 2020 Wenn Gämsen Schafe ersetzen: Fallstudie zu den Auswirkungen auf die Diversität von alpinen Rasen. Tuexenia 40, 225–246, DOI: 10.14471/2020.40.013

Riesen M., Widmer S., Dengler J., Billeter R. 2022 Einfluss maschinell geöffneter Lichtungen auf die Artenvielfalt in Grün-Erlen-Beständen – Eine Untersuchung zu Gefässpflanzen, Tagfaltern und Heuschrecken. Naturschutz und Landschaftsplanung 54 (8), 24-31, DOI: 10.1399/NuL.2022.08.02

Anthelme F., Grossi J.L., Brun, J.J., & Didier L. 2001. Consequences of green alder expansion on vegetation changes and arthropod communities removal in the northern French Alps. Forest Ecology and Management 145: 57–65.

Austrheim, G., & Eriksson, O. 2001. Plant species diversity and grazing in the Scandinavian mountains – patterns and processes at different spatial scales. Ecography 24: 683–695.

Bühlmann, T., Körner, C., & Hiltbrunner, E. 2013. Die Verbuschung des Alpenraums durch die Grünerle. FactSheet. URL: https://scnat.ch/de/uuid/i/0de8cffe-fe0c-51c4-a397-5dcf73c54b62-Die_Verbuschung_des_Alpenraums_durch_die_Gr%C3%BCnerle

Koerner, S.E., Smith, M.D., Burkepile, D.E., … & Zelikova, T.J. 2018. Change in dominance determines herbivore effects on plant biodiversity. Nature Ecology & Evolution. doi: 10.1038/s41559-018-0696-y

Komac, B., Domènech, M., & Fanlo, R. 2014. Effects of grazing on plant species diversity and pasture quality in subalpine grasslands in the eastern Pyrenees (Andorra): Implications for conservation. Journal for Nature Conservation 22: 247–255.

Meisser, M., Chatelain, C. 2010. Umtriebsweide bei der Schafsömmerung: Auswirkungen auf die Vegetation. Agrarforschung Schweiz 1: 216–221.

Milchunas, D.G., Sala, O.E., & Lauenroth, W.K. 1988. A Generalized Model of the Effects of Grazing by Large Herbivores on Grassland Community Structure. The American Naturalist 132: 87–106.